Im Jahr 1996 besuchten Mitarbeiter*innen des Bildungswerks Stanisław Hantz e.V. zum ersten Mal die Gedenkstätte Sobibór. Was sie dort vorfanden, war ein abgeschiedener Ort, eine Gedenkstätte, die der Natur viel Platz ließ; einen feuchten Wald, der mit seiner ungeheuren Stille die Massengräber, einen symbolischen Aschehügel sowie ein Denkmal mit einer Statue umschloss. An diesem sprachlosen Ort war die Ermordung von etwa 180.000 Menschen nur schwer nachvollziehbar.
1998 kam das Bildungswerk Stanisław Hantz schließlich mit Teilnehmer*innen einer Bildungsfahrt zurück nach Sobibór. Und von da an jedes Jahr wieder, manchmal mehrmals im Jahr. Von Besuch zu Besuch entfalteten sich mehr und mehr Gedanken und Gespräche darüber, wie man an diesem eindrücklichen Ort der Jüdinnen und Juden angemessen gedenken könnte, die hier in den Gaskammern ermordet wurden. Viele Ideen wurden verworfen, andere immer wieder diskutiert. Übrig blieb schließlich die Idee, an konkrete, einzelne Menschen zu erinnern. Nicht eine unvorstellbare anonyme Opferzahl sollte im Mittelpunkt stehen, sondern der einzelne Mensch. Ein Baum mit einem Gedenkstein davor sollten an ein in Sobibór ermordetes Opfer erinnern. Auf einer am Gedenkstein angebrachten Tafel sollten Geburtsort und Geburtsdatum stehen und so den Menschen ein wenig ihre Geschichte zurückgeben. Die einzelnen Bäume sollten nach und nach eine Allee bilden. So sollte eine Gedenkallee entstehen.
Mit den Besuchen in Sobibór entwickelte sich peu à peu eine gute Zusammenarbeit zwischen der Gedenkstätte und dem Bildungswerk Stanisław Hantz e.V. Die Gedenkstätte war dem Regionalmuseum in Włodawa [Muzeum Pojezierza Łęczyńsko-Włodawskiego] zugeordnet, einer Einrichtung des gleichnamigen Landkreises Włodawa. Das ehemalige Schtetl Włodawa lag ca. 20 Kilometer vom ehemaligen Mordlager entfernt. Der damalige Leiter der Gedenkstätte, Marek Bem, wollte Sobibór nicht nur verwalten. Er wollte der Gedenkstätte mehr Beachtung verleihen und die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit entwickeln. Unserer Idee einer Gedenkallee stand er wohlwollend gegenüber und sorgte für die praktische Umsetzung. Die für die Gedenkpolitik zuständige polnische Institution, der Rat für den Schutz der Denkmäler des Kampfs und Märtyrertums [Rada Ochrony Pomników Walk i Męczeństwa, RoKWiM], konnte sich mit dem Vorschlag einer Gedenkallee nicht anfreunden und sprach sich gegen sie aus. Allerdings war diese Institution nicht weisungsbefugt. Die Verantwortlichen im zuständigen Landkreis Włodawa gaben ihre Zustimmung für die Errichtung einer Gedenkallee. Da der Weg der Allee über das Gelände der Gedenkstätte hinaus auf den Grund und Boden der Forstbehörde führen sollte, war deren Genehmigung ebenfalls erforderlich.
Im Sommer 2003 wurde mit dem ersten Bauabschnitt der Aufbau der Gedenkallee begonnen. Ihr Verlauf sollte sich in etwa an dem Weg orientieren, den die Menschen zu den Gaskammern gehen mussten. Der ursprüngliche Verlauf des Weges zur Gaskammer war zu diesem Zeitpunkt nicht genau bekannt.

14. Oktober 2003 Eröffnung der Allee, Thomas Toivi Blatt durchschneidet das Band.
Am 14. Oktober 2003 versammelten sich über 150 Menschen an der Gedenkallee, um diese feierlich zu eröffnen. Thomas Blatt durchschnitt das Band und gab die Gedenkallee frei, sechzig Jahre nach dem Aufstand der jüdischen Zwangsarbeiter*innen im Mordlager Sobibor. Thomas Blatt wurde im April 1943 von den Nationalsozialisten aus dem kleinen Ort Izbica nach Sobibor verschleppt und konnte beim Aufstand dem Mordlager entfliehen. Er hatte bei den Planungen der Gedenkallee wertvolle Hinweise zu ihrem Verlauf geben können. Für ihn war sie eine Möglichkeit des Erinnerns, die er anerkannte und unterstützte. Allerdings entsprach die Form des Denkmals nicht seinen Vorstellungen. Er hätte in Sobibór gerne eine große Steinmauer mit der Zahl 250.000 (die damals vermutete Zahl der Opfer, heute geht man von ca. 180.000 Opfern aus) gesehen. Ihm war es wichtig, dass allen Opfern, auch jener, deren Namen wir heute nicht mehr kennen, gedacht wird. Die Gespräche mit ihm waren u. a. Anlass, in der Gedenkallee auch Steine mit der Aufschrift „Für die Unbekannten“ niederzulegen. Damit bekamen auf eine symbolische Art auch die namenlosen Opfer einen Platz in der Gedenkallee.
Seit dem Jahr 2004 beteiligte sich die niederländische Stichting Sobibor am Projekt Gedenkallee. Aus den Niederlanden wurden etwa 34.000 Jüdinnen und Juden nach Sobibor verschleppt und ermordet. Die Stichting Sobibor wurde 1999 von Jules Schelvis ins Leben gerufen. Am 4. Juni 1943 stand Jules Schelvis mit seiner Frau Rachel und deren Familie auf der Rampe in Sobibor. Er wurde von den deutschen Tätern zur Zwangsarbeit in einem Arbeitslager ausgesucht. Er überlebte als einziger der 3.006 Menschen, die mit ihm nach Sobibor gebracht wurden, den Krieg.
2005 wurde mit dem zweiten und letzten Bauabschnitt die Gedenkallee fertiggestellt. Eine Gruppe der Naturfreundejugend Nordrhein-Westfalen e.V. pflanzte die Bäume des 2. Bauabschnitts. Das Ende der Gedenkallee bildete ein massiver Stein. Auf ihm war zu lesen: „Die Gedenkallee endet hier. Zehntausende von Menschen, aus vielen verschiedenen Ländern, wurden gezwungen, diesen Weg zu gehen. Männer, Frauen und Kinder. Nicht weit von diesem Punkt wurde ihrem Leben ein abruptes Ende bereitet. Wer waren sie? Die erwähnten Namen entlang dieses Weges sind Zeugen für all die Menschen, die hier in Sobibor während des 2. Weltkriegs ermordet wurden. Die Namen halten ihr Leben und ihr Schicksal lebendig.“ Gleichzeitig wurde im Museum der Gedenkstätte ein Raum eingerichtet, in dem Biografien der in der Gedenkallee genannten Menschen nachzulesen waren.

2006 – neue Bäume wurden entlang der Allee gesetzt
In der Folgezeit wurde die Gedenkallee zu einem dynamischen Erinnerungsprojekt. Jahr um Jahr kamen neue Steine mit Namen und biografischen Daten dazu, nach und nach wuchs ein lebendiger Gedenkort heran. Die Gedenkallee für die ermordeten Jüdinnen und Juden in Sobibor ist kein staatliches, sondern ein von Bürger*innen Europas getragenes Gedenk- und Erinnerungsprojekt. Hunderte Menschen aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich und Polen haben sich an der Entstehung und Finanzierung der Gedenkallee beteiligt. Auch aus Australien, Israel und den USA gab es Unterstützung. Es sind vor allem Angehörige von in Sobibor Ermordeten, die ihrer geliebten Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, ihrer Geschwister, Verwandten und Freunde gedenken und der an ihnen begangenen Verbrechen erinnern wollen. Aber auch Bürger*innen beteiligten sich, die an jüdische Bürger*innen erinnern wollen, die aus ihren Heimatorten verschwanden und nach Sobibor verschleppt wurden. Schulklassen und auch Gruppen von Studierenden engagierten sich ebenfalls bei der Fortführung der Allee mit ihrer Erinnerung an die Ermordung jüdischer Jugendlicher. Immer wieder brachten Menschen aus verschiedenen Ländern selbst angefertigte Steine mit Plaketten mit und legten sie an ihren Platz in der Allee. Allen diesen Spender*innen ist gemein, dass ihre Trauer und ihr Wunsch nach Gedenken mit dem Stein einen konkreten und angemessenen Ort gefunden haben. Die Opfer kehrten nun namentlich bekannt in die Welt der Trauernden und Gedenkenden zurück. Es entwickelte sich ein Gedenkort, wie wir uns es gewünscht hatten, aktiv bewahrend, ständig wachsend und breit getragen. Mehr als 300 Steine lagen in der Gedenkallee von Sobibór.
Für die Besucher*innen von Sobibór wurde die Allee zu einem Areal der Stille, der Einkehr und des Gedenkens. Der geschützte Weg zwischen den Fichtenreihen, dessen Ende sich erst nach der Biegung des Weges erschloss, das Lesen der Namen auf den Gedenksteinen ließ erahnen, welch grausames Geschehen an diesem Orte stattfand. Die Allee mit ihren Steinen wurde zum Herzstück der Gedenkstätte, zum zentralen Anziehungspunkt vor Ort, und nahm eine dominante Rolle im Gedenken ein.
Leider war es nicht gelungen, mit einer angemessenen Anzahl von Gedenksteinen an die größte Opfergruppe von Sobibor zu erinnern. Die meisten Ermordeten stammten aus Polen und wurden aus dem sogenannten Generalgouvernement nach Sobibor verschleppt. Der Holocaust in Westeuropa wurde bürokratisch organisiert und verwaltet, mit der Erstellung von Deportationslisten, mit Namen, Adressen, Geburtsort und -datum. In Polen wurden die Jüdinnen und Juden namenlos in die Waggons getrieben. Einzig entscheidend war die Anzahl der Menschen in einem Waggon. Ihre Namen waren für die Deutschen bedeutungslos. Die Arbeit mit der Erstellung von „Transportlisten“ mit Namen, Adressen etc. ersparte man sich.
Das Fehlen von Dokumenten zur Verschleppung der Jüdinnen und Juden aus dem Generalgouvernement nach Sobibor ist nur einer der Gründe, warum so wenige Gedenksteine für polnische Jüdinnen und Juden in der Gedenkallee lagen. Namen für Steine gäbe es trotz der schlechten Quellenlage dennoch zur Genüge. Der weitaus wichtigere Grund liegt allerdings in der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der jüdischen Gemeinden in Polen und ihrer Auslöschung durch die Deutschen im 2. Weltkrieg. Zum einen dominiert in der polnischen Gedenkpolitik nach wie vor eher die Vorstellung von „großen Opferzahlen“ als der Darstellung von individuellen Einzelschicksalen. Zum anderen sind die polnischen Jüdinnen und Juden nach ihrer Ermordung auch aus der gesellschaftlichen Erinnerung verschwunden. Nach 1945 gab es in Polen für lange Jahre in der öffentlichen Erinnerung keinen Platz für das jüdische Leben vor der deutschen Besatzung. Nur wenige Menschen interessierten sich für das Schicksal ihres ehemaligen jüdischen Nachbarn*innen. Dies änderte sich zwar in den letzten Jahren, der Prozess war und ist jedoch schwer und langwierig. Um auch polnischen Jüdinnen und Juden einen angemessenen Raum in der Gedenkallee zu geben, wurden Steine aufgestellt, die u.a. an die jüdischen Gemeinden der Städte Włodawa, Chełm, Izbica und Hrubieszów erinnern, deren Mitglieder in Sobibor getötet wurden.

Der Gedenkstein für die ermordeten jüdischen Bewohner von Izbica
Im September 2008 verständigten sich sie Regierungen von Polen und Israel, der Slowakei und den Niederlanden, die Gedenkstätte Sobibór neu zu gestalten. Im Mai 2012 wurde Sobibór der Gedenkstätte Majdanek in Lublin zugeordnet; aus der Abteilung eines Regionalmuseums wurde so ein Staatliches Museum. Im Zuge der Neugestaltung wurde ab März 2017 die Gedenkstätte Sobibór und mit ihr auch die Gedenkallee für die Öffentlichkeit gesperrt. Seitdem konnten keine neuen Gedenksteine mehr in der Allee aufgestellt werden. Das Gelände wurde für Jahre zur Baustelle.
Zu unserem großen Bedauern wurde bei der Neugestaltung der Gedenkstätte Sobibór die Gedenkallee nicht in ihrer ursprünglichen Form mit ihren Serbischen Fichten und den individuellen Natursteinen mit den Plaketten erhalten. Den Weg zwischen den Serbischen Fichten wird es nicht mehr geben. Allerdings: Die Gedenksteine sollen nach Beendigung der Neugestaltung an einem anderen prominenten Ort in der Gedenkstätte wieder aufgestellt werden. Vermutlich wird das der zentrale Zuweg zu den Massengräbern sein, so dass ein neuer würdiger Ort für diese der Anonymität entrissenen Opfer entstehen wird.
Nach der Verlegung der Gedenksteine an ihren neuen Ort sollen auch wieder neue Steine aufgestellt werden können. Das europäische Bürgerprojekt Gedenkallee wird mit dem Namen Gedenksteine fortgesetzt.
Bildungswerk Stanisław Hantz e.V., Februar 2021