Am 4. Dezember starb Selma Engel in New Haven/Connecticut. Sie war, neben dem in Israel lebenden Semyon Rozenfeld, eine der letzten beiden bekannten Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor. Sie wurde 96 Jahre alt. 75 Jahre lang lebte sie mit den Erinnerungen an eine Zeit, in der sie die Hoffnung auf ein Weiterleben bereits aufgegeben hatte
Selma Engel wurde als Saartje Wijnberg am 15. Mai
1922 in den Niederlanden geboren. Sie war eines von vier Kindern, wuchs
mit drei großen Brüdern in der Kleinstadt Zwolle in der Nähe des
Ijsselmeeres auf. Ihre Eltern betrieben ein kleines koscheres Hotel, die
Familie war in der Stadt wohlbekannt und geachtet.
Im Jahr 1940, wenige Wochen nachdem die inzwischen
achtzehnjährige Selma das Abitur erfolgreich bestanden hatte, überfiel
die Wehrmacht das Land und für die Familie Engel sowie für tausende
andere jüdische Familien in den Niederlanden begann eine Odyssee, die
für die meisten mit der Ermordung durch die Nationalsozialisten und ihre
Kollaborateure endete. Mehr als 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung
der Niederlande waren am Ende des Krieges nicht mehr am leben, so viele
wie in keinem anderen westeuropäischen Land. Auch ein Großteil der
Angehörigen Selmas wurde während der Shoah getötet.
Um einer Festnahme und Deportation durch die
Nationalsozialisten zu entgehen begab sich Selma kurz nach deren
Einmarsch auf eine Flucht, auf der sie – jeglichem Kontakt zu ihrer
Familie beraubt – große Einsamkeit erlebte. Immer wieder musste sie ihre
Verstecke verlassen aus Angst, entdeckt zu werden, und immer wieder
fand sich ein neuer Unterschlupf, wenn auch meist nur für kurze Zeit. Im
Dezember 1942 wurde sie schließlich doch verhaftet und, nach einem
zweimonatigen Gefängnisaufenthalt in Amsterdam, in das
Konzentrationslager Vught bei ’s-Hertogenbosch gebracht. Von dort
gelangte sie kurz darauf in das Durchgangslager Westerbork, in dem im
Frühjahr 1943 die Deportationen in das Vernichtungslager Sobibor
begannen. Am 6. April 1943 wurde Selma einem etwa 2.000 Personen
umfassenden Transport zugeteilt, und gelangte drei Tage später, am 9.
April 1943, nach Sobibor.
Zusammen mit den Lagern Belzec und Treblinka war
Sobibor einer der Orte, an denen im Zuge der sogenannten „Aktion
Reinhardt“ die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch
die Nationalsozialisten ihre Durchführung fand. Nachdem man bereits im
Mai 1942 mit der Ermordung der polnischen Juden begonnen hatte, wurde
die Aktion einige Monate später auch auf die jüdischen Bevölkerungen
Westeuropas ausgedehnt. Etwa 34.000 Menschen wurden allein aus den
Niederlanden nach Sobibor deportiert. Bei allen Lagern der „Aktion
Reinhardt“ handelte es sich um reine Mordlager, ein Großteil der
Eintreffenden wurden bereits kurz nach der Ankunft getötet. Nur einige
wenige wurden aus den Transporten ausgewählt, um als ZwangsarbeiterInnen
im Lager den reibungslosen Ablauf der Mordmaschinerie zu gewährleisten.
Eine von Ihnen war Selma.
Im Lager traf Selma bereits am ersten Tag auf Chaim
Engel, ihren späteren Ehemann. Zu ihrer Belustigung hatte die SS mehrere
Gefangene dazu gezwungen miteinander zu tanzen; und so kam es, dass
Selma und Chaim allem Widerspruch und aller Angst zum Trotz an diesem
Ort mit einem Tanz eine Liebe begannen – eine Liebe, die zahllose
Kämpfe, Jahrzehnte und gemeinsame Kilometer überdauern sollte. Chaim,
ein polnischer Jude, der bereits einige Monate zuvor nach Sobibor
deportiert worden war, half Selma, sich im Wahnsinn des
Vernichtungslagers zurechtzufinden, und versuchte, Schutz und Trost zu
spenden in einer Situation, in der es weder Schutz noch Trost zu geben
schien.
Als schließlich am 14. Oktober 1943, nachdem in den
vorangegangen Wochen immer deutlicher geworden war, dass das Ende des
Lagers und damit die Ermordung aller verbliebenen Zeugen immer näher
rückte, die verbliebenen ZwangsarbeiterInnen in Sobibor einen Aufstand
wagten, nahmen sich Selma und Chaim an der Hand und flohen gemeinsam
durch die Wälder. Nur weniger als der Hälfte der etwa 500-600
ZwangsarbeiterInnen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Lager
aufhielten, gelang es, Zaun und Kugelhagel hinter sich zu lassen und das
Lagergelände zu verlassen. Noch weniger schafften es – verletzt,
traumatisiert und gehetzt – das Kriegsende zu erleben. Unter den etwa 46
Personen, die das Vernichtungslager Sobibor überlebten, befanden sich
sieben Frauen. Eine davon, die einzige Niederländerin, war Selma.
Erst zwei Wochen später, nach einer Odysee kreuz und
quer durch die Umgebung, fanden die beiden schließlich Unterschlupf bei
einem Bauernpaar, das sich bereit erklärte, sie auf ihrem Heuboden zu
verstecken. Dort blieben sie neun lange Monate bis zu jenem Tag im Mai
1944, an dem das Eintreffen der Roten Armee ihrer Flucht endlich ein
Ende bereitete. Chaim und Selma blieben noch einige Monate in Polen,
brachten dort ihren ersten Sohn, Emiel, zur Welt, und machten sich
schließlich mit ein wenig neuer Hoffnung auf den Weg in die Niederlande.
Auf der Reise verstarb Emiel, ein weiteres traumatisches Erlebnis, von
dem sich die Eltern nicht mehr erholen sollten. Zurück in den
Niederlanden wurde schnell deutlich, dass die alte Heimat, die Selma so
sehr vermisst hatte, nicht mehr existierte. Hinzu kam, dass Chaim als
polnischer Jude anhaltenden xenophoben Anfeindungen der einheimischen
Bevölkerung sowie der lokalen Bürokratie ausgesetzt war.
So beschlossen sie Anfang der 1950er Jahre, mit ihren
beiden in den Niederlanden geborenen Kindern Alida und Ferdinand, in
den wenige Jahre zuvor gegründeten Staat Israel auszuwandern und, noch
einmal, neu zu beginnen. Doch mit den Erfahrungen des Sinai-Krieges und
den damit verbundenen Retraumatisierungen wuchs der Wunsch, endlich ohne
Krieg zu leben, und Selma und Chaim entschieden 1957, in die USA
auszuwandern. Dort gelang es ihnen zwar endlich, ein wenig zur Ruhe zu
kommen und sich ein Leben in bescheidenem Wohlstand aufzubauen, doch
Sobibor verfolgte sie weiterhin. Mehrmals brachten sie die Kraft auf
nach Deutschland zu reisen, um bei Strafprozessen gegen die ehemaligen
Täter von Sobibor auszusagen, und mehrmals erklärten sie sich bereit,
über ihre Erinnerungen im Rahmen von Interviews, Buch- und Filmprojekten
zu sprechen. Das Glück, dem Schrecken entkommen zu sein und überlebt zu
haben, war für Selma und Chaim auch ein Bürde, die sie dazu zwang, sich
immer und immer wieder dem Widerfahrenen zu stellen. Noch viele
Jahrzehnte nach ihrer Flucht, und auch nachdem Chaim im Jahr 2003 an den
Folgen eines Autounfalls gestorben war, war für Selma das Erlebte
allgegenwärtig. Mit ihrer Enkelin Tagan reiste sie zurück in die
Niederlande und zeigte ihr die Orte ihrer Kindheit. Doch neben den
schönen Erinnerungen an ihre Familie und ihre alte Heimat wurde dabei
vor allem eines deutlich; die Zeit heilt eben doch nicht alle wunden.
Als sich der niederländische Minister Ab Klink 2010 im Rahmen einer
Gedenkveranstaltung in Westerbork bei Selma offiziell entschuldigte
lehnte diese die Entschuldigung ab – zu viel Zeit war verstrichen und zu
wenig passiert, um nun das Geschehene vergessen zu machen.
Als ich, Anne Lepper vom Bildungswerk, im letzten
Jahr das Glück hatte, Selma in ihrem Seniorenheim am Strand in New Haven
treffen und interviewen zu dürfen, war sie bereits 95 Jahre alt. Mein
Kollege und ich – die beiden Historiker aus Deutschland, dem Land der
Täter – wurden von ihr und ihrer Familie herzlich und unvoreingenommen
empfangen. Bei Keksen und Tee unterhielten wir uns über Selmas
Geschichte und das, was daraus geworden war. Vier Enkelinnen und acht
Ur-EnkelInnen lässt Selma zurück, viele neue Engels, die die Geschichte
ihrer Großeltern in sich und weitertragen werden.
Nur eines wollte Selma bei unserem Besuch nicht –
über Sobibor reden. Sie begann zu vergessen, konnte und wollte sich
nicht mehr an Details erinnern, die sie ihrer Familie noch wenige Wochen
davor immer wieder beschrieben hatte. Ich weiß nicht, ob es ihr
tatsächlich gelang, am Ende ihres langen Lebens ein wenig zu vergessen,
aber ich hoffe es. Und umso dringender bleibt die Verpflichtung bei uns,
nicht zu vergessen. Es gibt Geschichten, die trotz dem Unrecht, dem
Verlust und der Trauer von der sie erzählen, Hoffnung machen. Hoffnung,
dass Liebe und Solidarität auch unter den widrigsten Umständen
existieren und überdauern kann. Selmas Geschichte ist ganz sicher eine
davon.
Anne Lepper, Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V.